Die letzte Hinrichtung in Neubrandenburg (1770)

 

⚖️ Die letzte Hinrichtung in Neubrandenburg (1770): Ein dunkles Kapitel

In diesem Artikel möchte ich euch die Geschichte der letzten Hinrichtung in Neubrandenburg aufschreiben, die sich im Jahr 1770 dort abspielte. Ob man mit der Verurteilten Mitleid haben muss, muss jeder für sich selber entscheiden. Darüber möchte ich auch kein Urteil bilden, sondern aufzeigen, wie doch verroht die Menschen von damals waren und sowas als ihr Recht ansahen – und wie die „gute alte Zeit“ doch wirklich war.

Finden kann man diesen Bericht in der alten Chronik von Neubrandenburg, die 1874 von Franz Boll geschrieben wurde.

🔍 Spurensuche im Kirchenbuch & der Schindacker

Natürlich habe ich wieder in den Kirchenbüchern gestöbert, um diese Familien zu finden, und bin auch fündig geworden. Den Sterbeeintrag der Täterin, Dorothea Götterich geb. Flint, habe ich allerdings nicht gefunden. Das hat einen düsteren Grund: Es war damals üblich, diese Personen nicht zu nennen und schon gar nicht auf dem örtlichen Friedhof zu begraben.

Die Hingerichteten wurden meistens auf dem Schindacker begraben oder ihre Überreste einfach dort abgelegt. Der Schindacker war ein Platz, der außerhalb vom Ort gelegen hat und auf dem man verendete Tiere den Aasfressern überließ und auch häutete oder notdürftig verbuddelte. Für uns heute eine sehr gruselige Vorstellung; für unsere Vorfahren war das Alltag.

📜 Die Opfer: Familie Hoffmann

Interessant ist dieser Artikel besonders, wenn man in seinem Stammbaum die Familiennamen Flint, Götterich und auch Hof(f)mann aus Mecklenburg-Vorpommern hat.

Im Zentrum steht das Opfer: Maria Elisabeth Hoffmann geb. Benthien. In ihrem Sterbeeintrag steht „Beugtin“ als Geburtsname, was aber wohl falsch vom Schreiber geschrieben wurde, wie auch ihr Geburtsort. Sie soll die Tochter von einem Schulmeister namens Johann Benthien in Glendelin im ehemaligen Pommern sein. Der Schreiber notiert „Glentlin“; so ein Ort existiert aber nicht. Glendelin gehört heute zur Mecklenburgischen Seenplatte (Demmin-Land).

Das Alter von Maria Elisabeth Hoffmann wird im Kirchenbuch mit 32 Jahren angegeben. Sie besaß die Gaststätte „Zum Halben Mond“ in Neubrandenburg. Das Schild dieser Gaststätte soll im 19. Jahrhundert noch in einem Museum in Neubrandenburg vorhanden gewesen sein.

✝️ Der grausame Eintrag im Sterberegister

In dem Sterbeeintrag von Maria Elisabeth steht wörtlich geschrieben:

„In der Nacht vom 22ten bis 23 Oktober sind durch Mördershände auf die grausamste Art umgebracht wurden:

Maria Elisabeth Bentien, Johann Jacob Bentien eines Schulmeisters zu Glendelin in Pommern Tochter,

u. hinterlassener Witwe des Papiermachergesell Hoffmanns

deren ältesten Sohn Michael Christ. (Christian oder Christoph?) im 9ten Jahr

deren jüngste Tochter Anna Maria im 4ten Jahr

deren jüngsten Sohn Johann Jacob im 2ten Jahr.“

Maria Elisabeths Ehemann, Gottfried Hoffmann, war ein Jahr zuvor verstorben. Als sein Todesdatum wird der 10. Dezember 1769 angegeben. Leider ist die Todesursache nicht bekannt. Er wurde ca. 40 Jahre alt, also müsste er 1729–1730 herum geboren sein. Seinen Eintrag seht ihr an letzter Stelle.


⚠️ Warnung: Ein Blick in den Abgrund

Bevor ich nun zu den Details dieses Raubmordes und der späteren Hinrichtung komme, möchte ich eine Warnung aussprechen. Es wird grausam. Wenn ihr zart besaitet seid oder mit Gewaltbeschreibungen nur schwer umgehen könnt, bitte ich euch, hier nicht weiterzulesen. Hinrichtungen waren immer barbarisch, doch der Tod der Dorothea Götterich war besonders qualvoll, da er sich einfach nicht einstellen wollte.

🔍 Die Spur der Täterin: Wer war Dorothea Flint?

Die Frau, die später als Mörderin in die Geschichte eingehen sollte, war Dorothea Götterich, eine geborene Flint. Sie war die Tochter des Schuhmachers Christian Flint aus Stavenhagen in Mecklenburg-Vorpommern.

Ich habe die dortigen Kirchenbücher durchforstet, um ihren Ursprung zu finden. Legt man ihr angegebenes Alter von ca. 40 Jahren zugrunde, kommen zwei Einträge infrage:

  • 1730: Ein Taufeintrag für eine Trin Dorthi Flint. (Dann wäre sie bei der Hinrichtung 40 Jahre alt gewesen).
  • 1737: Ein Eintrag für eine Trin Dorthi Lische Flint. (Dann wäre sie erst 33 gewesen).

Hier müsste weiter geforscht werden, welcher Eintrag der richtige ist – am besten, indem man den Sterbeeintrag eines dieser Mädchen findet, da die Kindersterblichkeit damals sehr hoch war.

🩸 Das Blutbad im Haus Nr. 693

Die Tragödie nahm am 23. Oktober 1770 ihren Lauf. Tatort war das Haus Nr. 693 vor dem Friedländischen Tor in Neubrandenburg. Hier betrieb die Witwe des Papiermachergesellen Hofmann, die 32-jährige Maria Elisabeth, ihre Gastwirtschaft „Zum Halben Mond“.

An diesem Tag blieb das Haus still. Die Fensterläden waren verschlossen. Erst gegen Abend betrat eine Frau durch die offenstehende Hintertür das Haus – und fand ein Bild des Grauens. Die Bewohnerin und ihre drei kleinen Kinder lagen ermordet in ihrem Blut.

Die spätere ärztliche Untersuchung dokumentierte die unfassbare Brutalität der Tat:

  • Die Mutter: Getötet mit 26 Beilhieben.
  • Der neunjährige Sohn: 23 Hiebe.
  • Die vierjährige Tochter: 15 Hiebe.
  • Der zweijährige Sohn in der Wiege: 6 Hiebe.

🐎 Die Jagd beginnt: Von Friedland nach Anklam

Der Verdacht fiel schnell auf eine Frau, die schon öfters in dieser Gastwirtschaft übernachtet hatte. Am Abend des 27. Oktober erhielt das Neubrandenburger Gericht einen entscheidenden Hinweis vom Friedländer Bürgermeister: Eine verdächtige Frau, die sich „Witt“ nannte, hatte sich in Friedland bei einem Schneider aufgehalten, um ihre Kleidung flicken zu lassen, war aber bereits weitergezogen.

Noch am selben Abend handelte das Gericht. Es stattete den Bauzunftshauptmann Jacobs und den Schweinekäufer Schmidt – zwei Männer, die sich freiwillig zur Verfolgung gemeldet hatten – mit Pferden, Steckbriefen und Requisitionsschreiben aus. Die Jagd war kurz: Schon am nächsten Tag, dem 30. Oktober 1770, wurde die mutmaßliche Täterin in Anklam aufgespürt, verhört und verhaftet.

🏚️ Ein Leben im Schatten: Krieg, Diebstahl & Verwahrlosung

Wer war diese Frau? Es handelte sich um die ca. 40 Jahre alte Dorothea Götterich. Ihr Lebensweg war gezeichnet von Abstieg und Gewalt. Nachdem sie als Dienstmädchen in Rittermannshagen und Malchin gearbeitet hatte, wurde sie von Verwandten nach Stralsund geschickt. Dort begann ihre Verwahrlosung.

  • 1756: Sie heiratete den schwedischen Artilleristen Götterich.
  • Der Krieg: Sie begleitete ihn und die Truppen im Siebenjährigen Krieg. Dabei wurde sie Zeugin und wohl auch Teil der rohesten Gewalttaten, die das Soldatenleben mit sich brachte.
  • Der Absturz: 1768 wurde sie wegen Diebstahls an den Pranger gestellt und erhielt den Staupenschlag (Auspeitschung).
  • Der Verrat: Ihr Mann verließ sie heimlich und desertierte zu den Preußen nach Anklam. Als sie ihm folgte, sorgte er dafür, dass sie der Stadt verwiesen wurde.

Seitdem zog sie bettelnd und stehlend durch das Strelitzer Land. Eine entwurzelte Existenz.

🥔 Der verhängnisvolle Abend: Kartoffeln, Bier & Gier

Am Montag, den 22. Oktober, abends um 20 Uhr, kehrte die Götterich bei der Witwe Hofmann ein. Die Wirtin und ihre Kinder aßen gerade Abendbrot und luden den Gast freundlich ein, sich dazuzusetzen. Sie aß von den gebrühten Kartoffeln, trank ein paar Krüge Bier und teilte es sogar mit den Kindern, die um sie herumsprangen.

Ihr Plan war eigentlich, in der Nacht weiter nach Anklam zu ziehen, um es noch einmal bei ihrem Mann zu versuchen. Doch dann nahm das Schicksal eine Wendung.

Die Wirtin holte unglücklicherweise ihre Einnahmen der letzten Marktwoche hervor, um sie zu zählen. Sie brachte ein Beutelchen vom Saal und schüttete es auf den Tisch. Es war kein Vermögen – nur ein Louis d’or, etwas Hartgeld und 1,5 Courant. Doch für das raubsüchtige und verzweifelte Gemüt der Dorothea Götterich reichte dieser Anblick. In diesem Moment fasste sie den Entschluss, das Geld zu stehlen – und jeden Zeugen zu beseitigen.

🔪 Die Flucht & das Ende in Anklam

Allein das Geld zu nehmen, ohne die Wirtin zu beseitigen, erschien ihr unmöglich. Also griff sie zum Beil aus der Küche. Sie tötete zuerst die Mutter, bis kein Leben mehr in ihr war. Dann traf es die Kinder, die durch den Lärm erwacht waren und schrien. Nach der Tat nahm sie das Geld und einige Kleidungsstücke der Ermordeten an sich und verließ das Haus morgens gegen 5 Uhr.

Ihr Weg führte sie zunächst nach Glienecke (ein heute verschwundenes Dorf nahe Strelitz), wo sie den Tag bei einem Bauern verbrachte, ohne aufzufallen. Am nächsten Tag ging sie weiter nach Friedland, ließ beim Schneider ihre Garderobe in Ordnung bringen – und bestahl ihn zum Dank auch noch. Ihr Ziel war Anklam, wo sie hoffte, sich mit ihrem Mann auszusöhnen. Doch dazu kam es nicht mehr. Hier holten sie ihre Verfolger ein.

⚖️ Das Urteil: Tod durch das Rad

Die Mühlen der Justiz mahlten schnell. Schon am 29. November fand das letzte Verhör statt, und noch am selben Tag fällten Richter und Rat das Urteil: Dorothea Götterich sollte mit dem Rad vom Leben zum Tode gebracht und ihr Körper darauf geflochten werden.

Die Akten gingen zur Bestätigung an die Strelitzsche Justiz-Kanzlei und kehrten fast postwendend zurück. Am 12. Dezember erfuhr die Inquisitin (Angeklagte) ihr Schicksal: Die Hinrichtung wurde auf den 19. Dezember festgesetzt. In den Tagen davor besuchten sie drei Prediger (Stock, Jakobi und Zander) im Gefängnis (der Plattenburg), um ihr Gewissen zu wecken.

✝️ Der letzte Gang: Vergebung am Mordhaus

Am Morgen der Hinrichtung, um 7 Uhr, beichtete Dorothea Götterich und empfing das Abendmahl. Um 10 Uhr begann auf dem öffentlichen Markt das „peinliche Halsgericht“ nach alter Tradition. In Anwesenheit der fürstlichen Stadtrichter Fischer, Schröder und Wulffleff sowie des Bürgermeisters und Senators Natorp gestand sie ihre Tat öffentlich. Der Stab wurde über ihr gebrochen.

Als sie auf ihrem letzten Weg zum Friedländer Tor hinausgeführt wurde, kam der Zug am Tatort – dem Mordhaus – vorbei. Dort, unter den Zuschauern, entdeckte man den Vater der Ermordeten (den alten Schulmeister Benthien). Mit tränenerstickter Stimme flehte die Mörderin ihn um Vergebung an. Und in einer Geste großer Menschlichkeit erteilte ihr der alte Mann diese Vergebung tatsächlich.

🩸 Die Hinrichtung: Ein Martyrium ohne Ende

Dass wir heute so genau wissen, was dann geschah, verdanken wir einer Akte, die noch 1876 vorlag. Sie schildert ein Grauen, das eine volle halbe Stunde dauern sollte.

Der Scharfrichter und seine Gehilfen brauchten eine Viertelstunde, um die Verurteilte festzubinden und die „Bracken“ (Hölzer) unter ihre Glieder zu legen. Dann trat der junge Mühlhausen zur Tat. Es war seine erste Hinrichtung.

Er ließ das schwere Rad auf ihr linkes Bein fallen – doch ohne Kraft und Gewalt. Der Knochen brach nicht. Die arme Sünderin schrie entsetzlich:

„Ach Herr Jesu,

oh mein Bein!“

Die folgenden Schläge auf Arme und Beine und auf die Brust blieben wirkungslos. Der junge Henker war zu schwach. Dorothea Götterich verstummte, gab keinen Laut mehr von sich, lebte aber noch. Man befahl dem Henker, die „Genickschläge“ (Gnadenschläge) auszuführen. Doch als man die Fesseln löste, um sie umzudrehen, hatte sie noch so viel Kraft, dass sie sich sitzend aufrichtete.

🔨 Der Nagel: Ein Akt der Verzweiflung

Das Martyrium ging weiter. Schläge in den Nacken, Schläge auf die Brust, wieder und wieder. Man drehte sie auf den Bauch, auf den Rücken – doch der Tod wollte nicht eintreten. Sie lebte.

In ihrer Verzweiflung und wohl auch aus Mitleid, um das Leiden zu beenden, trafen die Richter eine entsetzliche Entscheidung: Sie folgten dem Rat des anwesenden Doktor Hempel. Man befahl dem Henker, den großen Nagel, der eigentlich dazu diente, den abgeschlagenen Kopf später auf dem Rad zu befestigen, in ihren Kopf zu treiben.

Der Knecht holte den Nagel und trieb ihn mit dem Hammer mitten in ihren Schädel. Er zog ihn sogar noch einmal heraus, um ihn erneut einzuschlagen, bis er noch eine Handbreit hervorragte.

👁️ Der Schrecken danach

Man glaubte, sie sei nun endlich erlöst. Doch was dann geschah, ließ das Blut der Zuschauer gefrieren. Kurze Zeit später hob die Sterbende beide Arme. Ihre Hände tasteten nach dem Nagel in ihrem Kopf, als wolle sie ihn herausziehen. Sie wischte sich sogar das Blut aus dem Gesicht. Als Doktor Hempel sich über sie beugte, um ihren Tod festzustellen, öffnete sie die Augen, hob den Kopf samt Nagel an, spuckte Blut und wischte sich den Mund ab.

Entsetzt befahl man weitere Schläge auf die Brust. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Erst als man den Nagel auf Rat des Doktors so tief einschlug, dass die Spitze unter dem Kinn an der Gurgel wieder hervorkam, verfärbte sich ihr Gesicht. Sie wurde blass.

Doch selbst als Pastor Jakobi schon die Grabrede hielt, bewegte sich ihr Leib noch stark und sie holte tief Atem. Der Scharfrichter fühlte ihr Herz – es schlug noch immer. Erst nach einer Ewigkeit endete das Leben der Dorothea Götterich.

Für die Zimmerleute, die extra Tribünen für die Zuschauer gebaut hatten, war es ein profitabler Tag. Das Publikum war von weit hergeströmt, um dem Schauspiel beizuwohnen.

Klassisches Rädern mit Rad und scharfkantigen Hölzern (Schweizer Chronik des Johannes Stumpf, Ausg. Augsburg 1586)