Der Freimacher: Wehrpflicht, Gift & der Rote Fingerhut im 19. Jh.

💀 Der „Freimacher“: Ein tödliches Geschäft mit der Angst vor dem Militär

Wenn wir in alten Militärakten blättern, finden wir oft den Vermerk „untauglich“. Meist denken wir an harmlose Gebrechen: Ein schiefes Bein, schlechte Augen oder eine schwache Lunge. Doch im 19. Jahrhundert verbarg sich hinter mancher Untauglichkeit ein dunkles Geheimnis – und ein lebensgefährlicher Betrug.

Es gab Männer, die man „Freimacher“ nannte. Ihr Beruf war so inoffiziell wie kriminell: Ihre Aufgabe war es, gesunde, wehrpflichtige Männer so krank zu machen, dass sie vom Militärdienst verschont blieben. Das Mittel ihrer Wahl war oft eine wunderschöne, aber tödliche Pflanze: Der Rote Fingerhut (Digitalis purpurea).

🌸 Die trügerische Schönheit des Fingerhuts

Wir kennen den Fingerhut als majestätische Waldpflanze. In der Medizin ist Digitalis bis heute unverzichtbar für Herzpatienten. Doch die Dosis macht das Gift. Die Freimacher nutzten genau diese herzwirksame Eigenschaft. Sie verabreichten den jungen Rekruten Pillen aus Fingerhut-Extrakt, um künstlich Krankheitssymptome zu erzeugen, die jeden Musterungsarzt täuschen sollten.

Ein riskantes Spiel mit dem Herzschlag, das oft tragisch endete.

⚖️ Ein Fall von 1875: Tod auf Bestellung

Ein besonders gut dokumentierter Fall aus Nordrhein-Westfalen im Jahr 1875 zeigt die Skrupellosigkeit dieser Praxis. Ein Gastwirt, der sich als Freimacher verdingte, „behandelte“ zwei wehrpflichtige junge Männer. Er gab jedem von ihnen 100 Pillen aus Rotem Fingerhut. Das Ziel: Sie sollten bei der Musterung so elend aussehen, dass man sie sofort nach Hause schicken würde.

Doch die Wirkung war verheerend.

  • Das erste Opfer: Einer der Männer überlebte die Prozedur nicht. Nur drei Tage nach der Einnahme blieb sein Herz stehen – eine klassische Überdosis. Er starb für den Traum von der Freiheit.
  • Der Überlebende: Der zweite Mann hatte Glück im Unglück, doch er ging durch die Hölle. Er litt unter massiven Vergiftungserscheinungen.

Die Symptome der „Freimachung“: Zeitgenössische Berichte schildern den Zustand des Überlebenden sehr genau.

Er litt unter:

  • Einem extrem verlangsamten Puls (Bradykardie).
  • Heftigsten Magenschmerzen, Übelkeit und Schwindel.
  • Typischen Digitalis-Zeichen wie starkem Mundgeruch und einer belegten Zunge.

Drei Wochen lang kämpfte er mit den Folgen, bis er sich erholte.

⛓️ Die Strafe und die Verzweiflung

Der Gastwirt entging seiner Strafe nicht. Für den Tod des einen und die Vergiftung des anderen verurteilten ihn die Behörden zu einer empfindlichen Geldstrafe und fünf Jahren Gefängnis.

Doch dieser Fall war keine Ausnahme. Er zeigt die enorme Verzweiflung, die viele junge Männer im 19. Jahrhundert beim Gedanken an den preußischen Drill oder die Kriege ergriff. Die Methoden, um dem Dienst zu entgehen, waren drastisch: Von der Einnahme von Giften über das Vortäuschen psychischer Krankheiten bis hin zur Selbstverstümmelung (das Abhacken des Zeigefingers, um den Abzug nicht mehr drücken zu können).

Der „Freimacher“ war kein Heiler. Er war ein Händler der Angst, der die Hoffnung auf ein ziviles Leben teuer verkaufte – manchmal mit dem Tod.