Das Erbe der Pruzzen: Baltische Namen & Totenklagen

🌿 Das Erbe der Pruzzen: Baltische Namen & die Magie der Elchniederung

Es gibt Zweige im Stammbaum, die fühlen sich an wie ein Ausflug in eine andere Welt. Wenn ich meine DNA betrachte, sehe ich, dass weit über 20% meiner Wurzeln im Baltikum liegen. Sie führen mich zurück in das ehemalige Preußen (später Ostpreußen), in eine Landschaft aus Mooren, Erlenbruchwäldern und Flüssen.

Dort lebten einst die Pruzzen (oder Prüsai), ein baltisches Volk mit einer Sprache, die mit dem Litauischen verwandt war, aber im 17. Jahrhundert verstummte.

🌳 Ein Volk, das die Natur anbetete

Meine Urgroßmutter Maria Wilhelmina Raudszus (1878–1939) stammte aus dieser Gegend. Ihre Vorfahren und die meiner Stammmutter Ilsabe Gennatis (* ca. 1695 in Präroslehnen) lebten in einer Kultur, die tief mit der Natur verwurzelt war.

Wie tief dieser Glaube ging, beschrieb der Chronist Peter von Dusburg schon im Jahr 1326 – und aus heutiger Sicht klingt es weniger wie ein „Irrtum“, sondern wie eine tiefe Ehrfurcht:

„Weil sie also Gott nicht kannten, deshalb verehrten sie […] jegliche Kreatur als göttlich, nämlich Sonne, Mond und Sterne, Donner, Vögel auch vierfüßige Tiere, ja sogar die Kröte. Sie hatten auch Wälder, Felder und Gewässer, die sie so heilig hielten, dass sie in ihnen weder Holz zu hauen noch Äcker zu bestellen oder zu fischen wagten.“

📜 Namen wie aus Märchen: Das „sz“ und die Schutz-Magie

Die Namen in diesem Teil meines Stammbaums klingen für unsere Ohren fremd, fast märchenhaft. Das typische „sz“, das man wie unser weiches „sch“ ausspricht, gibt ihnen einen ganz eigenen Klang: Ennusze, Friczus, Ansas.

Besonders berührend ist ein alter Brauch der Namensgebung, der den Tod überlisten sollte. Wenn Eltern ein Kind verloren hatten, gaben sie dem nächstengeborenen oft den Namen Erdme (Erdmut) für Mädchen oder Erdmons (Erdmann) für Jungen. Es war ein Schutzname. Er sollte das Kind fest an die Erde binden, damit es nicht zu früh in den Himmel entschwindet.

🔍 Was bedeuten die Namen?

Baltische Familiennamen sind selten Schall und Rauch. Sie tragen oft eine tiefe, manchmal melancholische Bedeutung in sich, die viel über das Leben, die Umgebung oder den Charakter des ersten Namensträgers verrät.

Hier sind einige Namen aus meiner direkten Linie und ihre verborgenen Botschaften:

  • Raudszus / Raudies: Ein Name voller Schwere und Poesie. Er kann von rauda (Grabgesang, Totenklage) oder raudat (weinen) kommen – vielleicht ein sehr emotionaler Vorfahre? Es gibt aber auch eine botanische Deutung: Er könnte auf Pflanzen hinweisen, die rötlich sind oder am Wohnort wuchsen, wie der Blutweiderich (raudoklis) oder die Nessel (raudona).
  • Kundra: Hier blüht das Handwerk auf. Der Name leitet sich vom Färberkrapp (Rubia tinctorum) ab, einer Pflanze, die zum Rotfärben genutzt wurde.
  • Uka(t): Ein Name aus dem Nebel. Er kann „Landwirt“ bedeuten, aber auch für Rauch, Dunst oder Finsternis stehen. Ein Name, der nach Moor und Nebel schmeckt.
  • Preikszas: Eine sehr spezifische soziale Rolle. Es bezeichnet den neuen Ehemann einer Witwe (oder manchmal einen Liebhaber).
  • Passlack: Ein Knecht, der einfache Arbeiten für kleines Geld verrichtete.
  • Szemkus: Ein einfacher Landarbeiter.
  • Abruszat: Ein Künstlername – er steht für einen Bildhauer.
  • Aukszlat: Ein Name voller Stolz. Er kann „Häuptling der Pogesanen“ bedeuten oder von Verben kommen, die für erhöhen, rühmen oder preisen stehen.

Ein Name bleibt mir bis heute ein Rätsel: Kweselait. Doch vielleicht ist es gut, dass manche Dinge im Nebel der Vergangenheit verborgen bleiben.

Es ist eine Reise zu den eigenen Wurzeln, die zeigt: Wir tragen nicht nur Gene in uns, sondern die Geschichten von Bernstein, heiligen Wäldern und Menschen, die ihre Kinder mit Namen an die Erde binden wollten.